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von Göler (Hrsg.) / Lennart Matzke / § 242

§ 242 Leistung nach Treu und Glauben

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Für den Rechtsverkehr

(für Nichtjuristen)

zum Expertenteil (für Juristen)

Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle

1§ 242 BGB trägt die Überschrift Leistung nach Treu und Glauben und formuliert, dass der Schuldner verpflichtet ist, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Bei dieser Gesetzesnorm handelt es sich um eine Vorschrift, die einen äußerst weiten Anwendungsbereich hat. Nach ihrem Wortlaut bestimmt die Vorschrift nur, wie derjenige, der zunächst zur Leistung verpflichtet ist, der Schuldner, eine Leistung erbringen soll. Er soll sie nämlich so bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Der Bedeutungsgehalt des § 242 BGB geht aber über die Art und Weise der Leistungserbringung hinaus und kann auch eigene Rechtspflichten begründen, und zwar sowohl Haupt- als auch Nebenpflichten. Dies beruht auf einer Rechtsauslegung, die von Gerichten und der Rechtsliteratur in jahrzehntelanger Rechtsfortbildung entwickelt worden ist.

Für die Rechtsanwendung ist Folgendes bedeutsam:

2Leistungspflichten und die Art und Weise der Erbringung von Leistungen, die nach § 242 BGB zu beurteilen sind, haben ein objektives und ein subjektives Element. Das objektive Element verbindet sich mit dem Begriff "Treu", das subjektive Elemente verbindet sich mit dem Begriff "Glauben". Die Begrifflichkeit "Treu" steht für Vertragstreue im ursprünglichen Sinn sowie die Redlichkeit.vgl. Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 242 BGB, Rn. 2 Der Begriff "Glaube" knüpft an ein Vertrauensverhältnis an und fordert die Berücksichtigung schutzwürdigen Vertrauens.Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 2 Mit den Begriffen der Vertragstreue und der Redlichkeit sind mithin die objektiven Elemente erfasst und mit dem Begriff von Glauben das subjektive Vertrauen desjenigen, um dessen Belange es bei der rechtlichen Bewertung einer Situation geht. Die gesetzliche Bestimmung sagt dann, dass der Schuldner nach Maßgabe von Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu handeln hat. Mit dem Begriff der Verkehrssitte ist das gemeint, was im Rechtsverkehr als üblich und angemessen verstanden wird. Mit Rechtsverkehr sind letztlich alle billig und gerecht Denkenden zu verstehen. Hier kann angeknüpft werden an die Definition der Sittenwidrigkeit in § 138 Abs. 1 BGB. Danach ist ein Rechtsgeschäft sittenwidrig, wenn es dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht. Die Verkehrssitte ist ein Ausdruck davon, was diesem Anstandsgefühl entspricht und hat folglich eine gesellschaftliche Ausprägung. 

Insgesamt ist § 242 BGB eine Vorschrift, die aufgrund ihrer Begrifflichkeiten und Formulierung zum Ausdruck bringt, dass jedem Recht eine sozialethische Schranke innewohnt.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, § 242 BGB, Rn. 1 

3§ 242 BGB ist mithin ein Einfallstor für Vertrauenselemente, Anstands- und Fairnessmaßstäbe und letztlich allgemeine Gerechtigkeitserwägungen. Es ist eine Öffnungsklausel, die dann Geltung entfaltet, wenn das formale Recht oder eine formale Rechtsposition zu ungerechten bzw. unzumutbaren Ergebnissen führt. In diesem Sinne ist § 242 BGB ein Korrektiv, das Rechtsmissbrauch verhindern soll und in geeigneten Fällen, so bei Auskunfts-, Aufklärungs- und Nebenpflichten, auch eine Anspruchsnorm darstellen kann. Die Verpflichtung, Leistungen so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordert, ist aber nicht nur ein Einfallstor für Rechtsgrundsätze wie Vertragstreue, Redlichkeit, Vertrauen. Die Gesetzesvorschrift des § 242 BGB bedeutet auch eine Öffnung für die Wertungen des Grundgesetzes dar, insbesondere der Grundrechte. Treu und Glauben und die Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern es auch, zu beurteilende Fallkonstellationen im Lichte des Schutzes der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Grundgesetz), des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Grundgesetz, der Glaubens-, der Presse und Meinungsfreiheit (Art. 4 und 5 Grundgesetz), des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Grundgesetz) wie auch der Berufsfreiheit und des Schutzes des Eigentums (vgl. Art. 12 und 14 Grundgesetz) zu betrachten. Die grundrechtlichen Wertungen haben Einfluss auf die Auslegung des § 242 BGB. Dies betrifft im Übrigen auch das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Dies alles nennt man die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte. Angesichts dieses weiten Anwendungsbereiches von § 242 BGB, der nicht nur auf die Art und Weise einer Leistungserbringung Anwendung findet, sondern auch eigene Rechtspflichten (Haupt- und Nebenpflichten) begründet, allgemeine Gerechtigkeitsempfindungen (sozial ethische Maßstäbe) berücksichtigt ebenso die Wertungen des Grundgesetzes, gerade auch im Hinblick auf die Grundrechte, ist es nur konsequent, wenn Rechtsprechung und Rechtsliteratur § 242 BGB nicht nur im Privatrecht anwenden, sondern auch im Verfahrens- (Einspruchs- und Widerspruchsverfahren) und im Prozessrecht. Ebenso hat die Rechtsprechung und Rechtsliteratur § 242 BGB auch im öffentlichen Recht zur Anwendung gebracht, d.h. dem Rechtsgebiet, das sowohl das Verhältnis des Einzelnen (sei er natürliche oder juristische Person) zur öffentlichen Hand regelt als auch die Rechtsbeziehungen innerhalb der öffentlich-rechtlichen Rechtsträger.

4Gerade dieser weite Anwendungsbereich macht die Norm zu einer der komplexesten des Bürgerlichen Gesetzbuches, da der Gesetzgeber mit wenigen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffen Lösungen für ansonsten nicht auflösbare Fallkonstellation bereithält. Folge ist, dass durch Gerichte über Jahrzehnte ein Wertungskanon entwickelt wurde, der selbstverständlich selbst einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist.

5Hauptanwendungsfall bleibt aber das Bürgerliche Recht in all seinen Ausprägungen, nämlich das Kaufrecht, das Werkvertragsrecht, das Architektenrecht, das Dienstvertragsrecht, das Anwaltsrecht, das Mietrecht, das Darlehensrecht, aber auch das Familien- und das Erbrecht. Hinzu kommen andere Rechtsgebiete des Zivilrechts wie das Wettbewerbsrecht, das Markenrecht und das Gesellschaftsrecht. Auch im Arbeitsrecht spielt Treu und Glauben eine wichtige Rolle.

6Was sich aus einer Anwendung des § 242 BGB ergibt, ist in aller Regel eine Frage des jeweiligen Einzelfalls. Die Rechtsprechung und Rechtsliteratur haben jedoch bestimmte Fallgruppen und Kategorien entwickelt.

Betrachtet man Hauptpflichten, die sich aus § 242 BGB ergeben, so sind dies vor allem auch Auskunftspflichten, Nebenpflichten, Hinweispflichten, Fürsorge- und Schutzpflichten.

7Allgemeiner Rechtsgrundsatz ist es, dass Verträge einzuhalten sind. Dies wurde bereits im Römischen Recht mit der Begrifflichkeit pacta sunt servanda so formuliert. Dementsprechend folgen aus § 242 BGB auch Pflichten, die den Leistungserfolg herbeiführen, sichern oder verhindern, dass der Leistungserfolg vereitelt wird.

8Darüber hinaus sind von besonderer Bedeutung die von der Rechtsprechung und der Rechtsliteratur entwickelten Fallgruppen, die die Ausübung eines Rechtes unzulässig machen. Hierbei geht es um das sogenannte rechtsmissbräuchliche Verhalten, das in der Rechtsanwendung unterbunden bzw. verhindert werden muss. Was unter rechtsmissbräuchlichem Verhalten zu verstehen ist, ist in der Rechtslehre und der Rechtsprechung über viele Jahrzehnte entwickelt worden und ist abhängig von den einzelnen Rechtsgebieten und den jeweiligen Fallkonstellationen. Rechtsmissbräuchlich ist jedenfalls ein Verhalten, mit dem sich der andere Teil in Widerspruch zu seinem eigenen vorangegangenen Verhalten setzt. Dies haben die Römer schon als venire contra factum proprium bezeichnet. Rechtsmissbräuchlich kann auch das Berufen auf formale Rechtspositionen sein, so beispielsweise, wenn eine Rechtsposition unzulässig erworben worden ist oder sofort wieder zu räumen wäre, nachdem sie gerade erlangt worden ist. Hierzu hat bereits das römische Recht formuliert, dass rechtsmissbräuchlich handelt, wer etwas herausverlangt, was er unverzüglich wieder zurückgeben muss. Anerkannt ist als Anwendungsfall des Rechtsmissbrauchs auch das treuwidrige Berufen auf einen Formmangel. Wer in zurechenbarer Weise bei dem anderen Teil den sicheren Eindruck erweckt hat, er werde sich auf einen Formmangel nicht berufen und dadurch beispielsweise Dispositionen auslöst, kann möglicherweise später mit der Berufung auf einen Formfehler nicht mehr gehört werden. All dies ist aber jeweils eine Frage des Einzelfalls und des jeweiligen Rechtsgebietes.

9Ein ganz wesentlicher Anwendungsfall von Treu und Glauben, entwickelt in jahrzehntelanger Rechtsprechung und in der Rechtslehre, ist das Institut der Verwirkung. Nach dem Institut der Verwirkung kann ein Recht nicht mehr geltend gemacht werden, wenn der Anspruchsgegner wegen langen Zeitablaufes (Zeitmoment) und des früheren Verhaltens des jetzigen Anspruchstellers (Umstandsmoment) darauf vertrauen kann, ein Recht werde nicht mehr geltend gemacht. § 242 BGB verhindert mit dem Einwand der Verwirkung in diesen Fällen die Durchsetzung einer formalen Rechtsposition und ist damit eine klassische Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben.

10Zu beachten ist allerdings, dass § 242 BGB keine allgemeine Billigkeitsnorm ist, die im Übrigen das Rechtssystem relativiert oder in bestimmten Bereichen seine Anwendung außer Kraft setzt. Dies wäre ein falsches Verständnis. Es geht bei Treu und Glauben und damit der Vorschrift des § 242 BGB immer um Anwendungsfälle, bei denen anderenfalls unsittliche, unzumutbare bzw. ethisch nicht vertretbare Ergebnisse eintreten würden, die das Rechtsempfinden der Allgemeinheit bzw. der betroffenen Verkehrskreise deutlich verletzen würden.

Expertenhinweise

(für Juristen)

1) Allgemeines

a) Einleitung

11Der Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben in § 242 BGB ist durch die Interpretation, die er durch die Gerichte erfahren hat, zu einer der wichtigsten und zentralen Vorschriften nicht nur des Privatrechts, sondern der gesamten Rechtsordnung geworden.Sutschet in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, 55. Edition, 01.08.2020, § 242 BGB Vorbemerkung Dem rechtsethischen PrinzipLarenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 421 ff.

2) Definitionen

a) Tatbestand

15Nach dem Wortlaut und seiner Stellung im Gesetz bezieht sich § 242 BGB auf den Schuldner, und in welcher Art und Weise er die geschuldete Leistung zu erbringen hat. Der Tatbestand ist damit sehr allgemein. Es wird einzig ein Schuldverhältnis beliebiger Art vorausgesetzt.Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 7

3) Abgrenzungen, Kasuistik

a) Typologie

23§ 242 BGB stellt keine selbstständige Anspruchsgrundlage dar.Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 29 Von dieser Regel gibt es allerdings Ausnahmen. Dies zeigen z.B. die im Unterhaltsrecht aus § 242 BGB abgeleiteten Ausgleichsansprüche,Vgl. OLG Hamburg, 31.05.2002 – 12 UF 95/01 ebenso wie die sich aus § 242 BGB ergebenen Nebenpflichten, wie insbesondere auch der Anspruch auf Auskunft.Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 29 Auskunftsansprüche können sein: Anspruch des Verletzten gegen den Verletzer auf Auskunft über diejenigen Umstände, die zur Bezifferung des Schadensersatzanspruchs erforderlich sind (BGH, Urteil vom 14.02.2006 – X ZR 93/04), Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Auskunft über die Kosten der Haltung eines privat genutzten Dienstfahrzeugs (BAG, Urteil vom 19.04.2005 - 9 AZR 188/04), Anspruch des Ehegatten auf Auskunft über illoyale Vermögensminderungen im Sinne des § 1375 Abs. 2 BGB (BGH, Urteil vom 09.02.2005 – XII ZR 93/02), Auskunftsanspruch, dass eine Person in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang ihres Rechts im Ungewissen ist, und der andere Teil unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderlichen Auskünfte erteilen kann (BGH, Urteil vom 09.11.2011 - XII ZR 136/09; BGH, Urteil vom 17.07.2002 - VIII ZR 64/01). 

Rechtsprechung zum Thema: BGH, Urteil vom 09.11.2011 - XII ZR 136/09

(vgl. auch BGH, Urteil vom 17.07.2002 - VIII ZR 64/01)

Leitsatz: Aus Treu und Glauben ergibt sich grundsätzlich ein Auskunftsanspruch, wenn die zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen es mit sich bringen, dass der eine Teil in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, und der andere Teil in der Lage ist, unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderlichen Auskünfte zu erteilen.

Gründe: Die Parteien streiten um eine Auskunftspflicht der Beklagten zur Vorbereitung eines Unterhaltsregresses nach erfolgreicher Vaterschaftsanfechtung durch den Kläger. Auf der Grundlage eines Gutachtens stellte das Familiengericht fest, dass der Kläger nicht der Vater des Sohnes der Beklagten ist. Der Kläger fordert Unterhalt zurück. Dem Kläger stehe nach § 242 BGB ein Auskunftsanspruch gegen die Beklagte zu, wer ihr in der gesetzlichen Empfängniszeit beigewohnt habe und gegen wen er seinen Anspruch auf Unterhaltsregress richten könne. Nach Treu und Glauben bestehe eine Auskunftspflicht, wenn die zwischen den Parteien bestehenden Rechtsbeziehungen es mit sich brächten, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen und Umfang seines Rechts im Ungewissen sei und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben könne.

Die Auskunftspflicht aus § 242 BGB ergibt sich aus dem Bedürfnis nach effektivem Rechtschutz des Klägers. Die Verpflichtung zur Auskunft über die Person des mutmaßlichen Vaters ihres Kindes berührt zwar das Persönlichkeitsrecht der Mutter nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. In Fällen, in denen die Mutter den Mann zur Abgabe eines Vaterschaftsanerkenntnisses veranlasst hatte, wiegt ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht aber regelmäßig nicht stärker als der Anspruch des Mannes auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG zur Durchsetzung seines Unterhaltsregresses.

Zur Konkretisierung des Inhalts des § 242 BGB empfiehlt sich eine Unterteilung in Funktionskreise.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 15 

aa) Konkretisierungsfunktion

§ 242 BGB regelt vor allem die Art und Weise der Leistung. Die Norm ergänzt und konkretisiert die Einzelbestimmungen der §§ 243 bis 274 BGB. 24Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 30 

bb) Ergänzungsfunktion

25Jedenfalls bis zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz (also bis 01.01.2002) hatte § 242 auch Schuldverhältnisse ergänzt. Mit seiner Hilfe wurden zusätzliche Leistungs- und Rücksichtspflichten begründet, die weder vertraglich noch gesetzlich geregelt waren.Looschelders/Olzen in: Staudinger Kommentar zum BGB §§ 241-243, a.a.O., § 242 Rn. 186 

cc) Schrankenfunktion

26Der Grundsatz von Treu und Glauben stellt eine allen Rechten und Rechtspositionen immanente Schranke dar. Aus ihm ergibt sich die praktisch wichtigste Funktion, nämlich das Verbot unzulässiger Rechtsausübung.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 16 

dd) Korrekturfunktion

27Bei veränderten Umständen kann über § 242 BGB eine Anpassung des Inhalts eines Schuldverhältnisses erfolgen.Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 33 Die Korrekturfunktion hat durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts weitgehend an Bedeutung verloren. Die anhand § 242 BGB herausgebildeten Grundsätze über das Fehlen und den Wegfall der Geschäftsgrundlage sowie das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund bei Dauerschuldverhältnissen sind in §§ 313, 314 BGB geregelt.Heinrich, Die Generalklausel des § 242 BGB in: HUMANIORA Medizin – Recht – Geschichte, 585 – 607 (586)  

b) Abgrenzung

aa) §§ 133, 157 BGB

28Die beiden Normen, von denen § 157 BGB dieselben Kriterien wie § 242 BGB verwendet, sind in der Theorie eindeutig von § 242 BGB abzugrenzen. In der Praxis verschwimmen die Grenzen allerdings. §§ 133, 157 BGB beziehen sich auf die Auslegung der Willenserklärung und dienen der Schließung etwaiger Lücken im Wege ergänzender Vertragsauslegung (rechtliches Wollen). § 242 BGB enthält einen objektiven Maßstab, der vom Parteiwillen unabhängig auf die Art und Weise, Bestand und Inhalt der Leistungspflicht einwirkt und auch für Rechtsverhältnisse aus nicht rechtsgeschäftlichen Tatbeständen gilt (rechtliches Sollen).Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 34; Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 17 Die Auslegung der Willenserklärung nach §§ 133, 157 BGB ist daher vorrangig. Die Prüfung der Einwirkung des § 242 BGB auf das Rechtsverhältnis kann erst stattfinden, wenn der Parteiwille feststeht.Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 127; Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 34 

bb) §§ 134, 138 BGB

29§§ 134, 138 BGB stellen Außenschranken für die Gültigkeit von Rechtsgeschäften dar. § 242 BGB lässt die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts unberührt, ist eine Binnenschranke für die Rechtsausübung und kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB.Looschelders/Olzen in: Staudinger Kommentar zum BGB §§ 241-243, a.a.O., § 242 Rn. 362 §§ 134, 138 BGB sind daher vorrangig zu prüfen.Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 35 § 138 BGB hat als Tatbestandmerkmal den Begriff der Sittenwidrigkeit, welcher enger ist als der Tatbestand des § 242 BGB. Sittenwidrigkeit ist immer ein Verstoß gegen Treu und Glauben, andersherum ist nicht jede Treuwidrigkeit zugleich ein Sittenverstoß.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 18, Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 127 

cc) §§ 226, 826 BGB

30Das Schikaneverbot aus § 226 BGB ist wegen seiner engen tatbestandlichen Voraussetzungen neben dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung aus § 242 BGB weitgehend bedeutungslos. Eine Anwendung des § 226 BGB kommt praktisch nur dann in Betracht, wenn § 242 BGB ausnahmsweise mangels einer Sonderverbindung nicht gilt.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 18; Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 36, Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 130 

Entsprechendes gilt für § 826 BGB als Schranke der Rechtsausübung, weil dieser einen objektiven Verstoß gegen die guten Sitten erfordert und damit der Tatbestand wieder enger gefasst ist, als bei § 242 BGB. In der Praxis hat § 826 BGB daher eigenständige Bedeutung, ebenfalls nur bei Fehlen einer Sonderverbindung, oder aber als Anspruchsgrundlage für einen Schadensersatzanspruch.Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 36; Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 130 

dd) §§ 307 ff. BGB

31Die §§ 307 ff. BGB sind gegenüber § 242 BGB leges speciales. Sie legen abschließend fest, unter welchen Voraussetzungen Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) unwirksam sind. § 242 BGB bleibt für die Wirksamkeit dennoch maßgebend, wenn die §§ 307 ff. BGB ausgeschlossen sind. Darüber hinaus kann auch im Falle einer wirksamen Klausel deren Geltendmachung im Einzelfall gegen Treu und Glauben verstoßen. Bamberger/Roth Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 37; Looschelders/Olzen in: Staudinger Kommentar zum BGB §§ 241-243, a.a.O., § 242 Rn. 379 f.  

4) Zusammenfassung der Rechtsprechung

a) Hauptleistung

32Wie schon der Wortlaut ergibt, regelt § 242 BGB die Art und Weise, also das „Wie“ der Leistung. Die Leistung ist nicht nur so zu erbringen, wie es vereinbart wurde, sondern auch dem Sinn und Zweck des Schuldverhältnisses entsprechend. Eine Leistung zur Unzeit ist ebenso wie eine Leistung am unpassenden Ort unzulässig.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 22

5) Literaturstimmen

64Zu § 242 BGB:

- Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020
- Grüneberg/Sutschet in: Bamberger/Roth Kommentar zum BGB
- Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019
- Sutschet in: Hau/Poseck, BeckOK BGB, 55. Edition 01.08.2020
- Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 2014
- Looschelders/Olzen in: Staudinger Kommentar zum BGB §§ 241-243 BGB, Neubearbeitung 2015
- Mansel in: Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch, 17. Aufl. 2018, § 242 BGB
- Duve in: Schmoeckel/Rückert/Zimmermann, Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band II: Schuldrecht Allgemeiner Teil 1. Teilband: vor § 241 – § 304, 1. Auflage 2007
- Heinrich, Die Generalklausel des § 242 BGB in: HUMANIORA Medizin – Recht – Geschichte, 585 – 607, 2006
- Nix, Über Treu und Glauben, NJW-aktuell 2017, 14

6) Prozessuales

65Zur Verteidigung gegen einen Anspruch braucht der Grundsatz von Treu und Glauben grundsätzlich nicht im Wege der Einrede geltend gemacht werden. Da der Grundsatz von Treu und Glauben eine rechtsvernichtende Einwendung ist, sind etwaige Verstöße gegen § 242 BGB von Amts wegen zu berücksichtigen. Es sind nur die relevanten Tatsachen in den Prozess einzuführen.Schubert in: Münchener Kommentar zum BGB, a.a.O., § 242 BGB, Rn. 83 

Die Beweislast für das Vorbringen, das eine Anwendung des § 242 BGB rechtfertigen könnte, trägt nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen in der Regel die begünstigte Partei. Grundsätzlich ist § 242 BGB keine Anspruchsgrundlage. Aus den auf § 242 BGB beruhenden Nebenpflichten können sich aber einklagbare Ansprüche ergeben.Grüneberg in: Palandt Kommentar Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, § 242 BGB, Rn. 21 

7) Anmerkungen

66§ 242 BGB in Zeiten der Corona-Pandemie

Die Lockdown-Maßnahmen betreffen aufgrund der Einschränkungen der wesentlichen Grundfreiheiten die meisten, wenn nicht sogar alle Lebensbereiche.

Auswirkungen haben diese auch auf den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB.

So gelangt etwa der Grundsatz der Vertragstreue an seine Grenzen.


Fußnoten