§ 1574 Angemessene Erwerbstätigkeit
(1) Dem geschiedenen Ehegatten obliegt es, eine angemessene Erwerbstätigkeit auszuüben.
(2) Angemessen ist eine Erwerbstätigkeit, die der Ausbildung, den Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des geschiedenen Ehegatten entspricht, soweit eine solche Tätigkeit nicht nach den ehelichen Lebensverhältnissen unbillig wäre. Bei den ehelichen Lebensverhältnissen sind insbesondere die Dauer der Ehe sowie die Dauer der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes zu berücksichtigen.
(3) Soweit es zur Aufnahme einer angemessenen Erwerbstätigkeit erforderlich ist, obliegt es dem geschiedenen Ehegatten, sich ausbilden, fortbilden oder umschulen zu lassen, wenn ein erfolgreicher Abschluss der Ausbildung zu erwarten ist.
Für den Rechtsverkehr
(für Nichtjuristen)
zum Expertenteil (für Juristen)
Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle
1
Was genau einer angemessenen Erwerbstätigkeit entspricht, wird in Absatz 2 der Vorschrift definiert. Demnach handelt es sich um eine Erwerbstätigkeit, die der Ausbildung, den Fähigkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des geschiedenen Ehegatten entspricht, soweit eine solche Tätigkeit nicht nach den ehelichen Lebensverhältnissen unbillig wäre.
2Nach früherer Rechtsprechung waren die ehelichen Lebensverhältnisse garantiert. Der unterhaltsberechtigte Ehegatte war nach einer langjährigen Ehe und bei gehobenen Einkommensverhältnissen nach der Scheidung nicht verpflichtet, in einem niederqualifizierten Beruf zu arbeiten, um seinen Unterhalt sicherzustellen.
Dies wurde mit der Unterhaltsreform im Jahr 2008 geändert. Der nun aufgestellte Grundsatz der Eigenverantwortung (
Expertenhinweise
(für Juristen)
1) Allgemeines
3Die Obliegenheit der Ausübung einer angemessenen Erwerbstätigkeit nach
Was unter einer angemessenen Erwerbstätigkeit zu verstehen ist, wurde in
4Der geschiedene Ehegatte ist darüber hinaus nach
5Die Prüfung der Angemessenheit obliegt dem Tatrichter und erfolgt in zwei Stufen. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die Erwerbstätigkeit als angemessen im Sinne des
6In einer zweiten Prüfungsebene obliegt es dem Tatrichter, eine Billigkeitsabwägung gemäß
2) Definitionen
7Die Prüfung des
1. Angemessenheitsprüfung (1. Stufe)
In dieser Stufe sind die in
a) Ausbildung
8Beachtlich sind nur berufliche Ausbildungen, die vor oder während der Ehezeit abgeschlossen wurden. Abgebrochene Ausbildungen sind unbeachtlich, ebenso wie berufliche Ausbildungen, die aufgrund geänderter Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr ausgeübt werden können. In einem solchen Fall kann ggf. die Obliegenheit für eine weitere Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung bestehen.
Auf die abgeschlossene Ausbildung darf jedoch nur dann abgestellt werden, wenn es dem Unterhaltsberechtigten objektiv und subjektiv möglich ist, eine darauf aufbauende Erwerbstätigkeit auszuüben. So kann eine approbierte Ärztin, die jedoch nie in ihrem Beruf tätig war, nach der Scheidung nicht einfach als Ärztin tätig sein.OLG Hamm FamRZ 1998, 243.
b) Fähigkeiten
9Fähigkeiten entsprechen persönlichen Eigenschaften, die der jeweilige Ehegatte im Zeitpunkt der Scheidung bereits erworben hat und die beruflich verwertbar sind, z.B. Fremdsprachenkenntnisse. Hat der unterhaltsberechtigte Ehegatte während der Ehezeit die Haushaltsführung und Kinderbetreuung übernommen, kann angenommen werden, dass während dieser Zeit Fähigkeiten erworben wurden, die u.a. in Pflegeberufen eingesetzt werden könnten.BGH FamRZ 1987, 691.
c) frühere Erwerbstätigkeit
10Grundsätzlich gilt, dass die Wiederaufnahme einer Tätigkeit, die vor der Ehe ausgeübt wurde, auch nach der Scheidung regelmäßig als angemessene Erwerbstätigkeit zu sehen ist.OLG Celle FamRZ 2010, 1673. Es muss jedoch ggf. im Rahmen der Billigkeit geprüft werden, ob die Tätigkeit im Vergleich zu den ehelichen Verhältnissen als unterqualifiziert erscheint.
d) Alter
11Eine allgemein gültige Altersgrenze ist nicht vorgesehen. Die Grenze dürfte regelmäßig die gesetzliche Regelaltersgrenze der Rentenversicherung bilden. Die Voraussetzungen entsprechen demnach denen des
e) Gesundheitszustand
12Anhand der Gesundheit des geschiedenen Ehegatten ist zu prüfen, ob grundsätzlich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann und wenn ja, in welchem Rahmen. So kann im Einzelfall ein Wechsel der Arbeitsstelle oder die Reduzierung auf eine Teilzeittätigkeit in Betracht kommen. Die Kriterien entsprechen hierbei denen des
2. Billigkeitsprüfung (2. Stufe)
13In der zweiten Stufe ist zu prüfen, inwiefern eine Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung der ehelichen Lebensverhältnisse für den geschiedenen Ehegatten angemessen erscheint. Ausschlaggebend sind hierbei die ehelichen Lebensverhältnisse im Zeitpunkt der Scheidung, sodass Veränderungen während der Trennungszeit beachtlich sind.BGH FamRZ 1984, 561.
Entscheidend in der Billigkeitsprüfung sind zudem die Dauer der Ehe sowie Kindererziehungszeiten. Je länger die Ehe andauert, desto mehr sind die Ehegatten sowohl wirtschaftlich als auch allgemein miteinander verflochten und ggf. voneinander abhängig.BGH FamRZ 1981, 140. Haben die Ehegatten zudem in wirtschaftlich oder sozial gehobenen Verhältnissen gelebt, ist dem geschiedenen Ehegatten mitunter die Ausübung einer niederqualifizierten Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten.